Text Paul Revellio

Almanach 2004 “Kunst und Künstler”: Paul Revellio

 

„Wer nicht zeitlebens gewissermaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein; nur nimmermehr ein Genie.“

Arthur Schopenhauer

 

Ein großes Kind ist er gewissermaßen geblieben und an Genialität mangelt es ihm sicherlich auch nicht: Paul Revellio, der Maler von Glotzer & Co. gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Künstlern der Region und darüber hinaus zu dem Kreis der wenigen Künstlern, die sich ohne irgendwelche Lehr- und Nebentätigkeiten voll und ganz ihrer Kunstausübung widmen können. Wie sich zeigt, mit respektablem Erfolg. Was aber die wenigsten Kunstinteressierten wissen: sein Hauptatelier befindet sich nicht in Villingen. Hier ist der 1957 in Donaueschingen geborene Künstler zwar aufgewachsen und hier hat er sich in der Druckerei seiner Familie eine professionelle Werkstatt für künstlerische Lithografie eingerichtet. Paul Revellios Arbeits- und Lebensmittelpunkt liegt jedoch seit 1997 in Sachsenheim bei Ludwigsburg. Der Meisterschüler von Georg Baselitz an der Berliner Hochschule für Künste und Preisträger sowie Stipendiat verschiedenster Einrichtungen ist trotz seines Erfolges ein Künstler ohne Allüren mit Bodenhaftung geblieben. Seine Bildthemen, so grell und disproportioniert sie auch daher kommen, beziehen sich immer auf das reale Leben. Landschaftsdetails wie Baumstämme, Geäste und Lichtungen, Stillleben und besonders der Mensch mit seinen elementaren Lebensgewohnheiten und zeitlosen Sinnzusammenhängen werden zum Bildgegenstand. Modelleisenbahnfreunde, Tee-, Kaffe- und Weintrinker, Törtchen-, Eis- und Knödelesser: der Besucher des Ateliers oder einer seiner zahlreichen Ausstellungen wird rasch mit Revellios grellbunter Welt banaler Begebenheiten vertraut gemacht. Und über all dem scheinbar doch so Harmlosen wachen regelmäßig die Glotzer in unterschiedlichsten Form- und Farbausprägungen. Mal rund, mal eckig, mal mit schmalem, mal mit aufgerissenem Mund, mal mit großer, mal mit kleiner Kolbennase, aber immer staunend, als sähen sie die Welt zum aller ersten Mal, sind die reduzierten Portraits Revellios Markenzeichen seit seiner Studienzeit. Vielleicht sind sie auch in ihrer Gesamtheit das Spiegelbild der Betrachter selbst oder das alter ego eines Künstlers, der über die alltäglichen großen, aber meistens kleinen Ereignisse staunt wie ein kleines Kind und diesen Eindrücken mit Farbe zu Leibe rückt. Man ahnt es, so einfach verhält es sich mit den heiter stimmenden Bildgeschichten nicht. Die Motive erinnern an Vertrautes, und doch steht der Betrachter vor einer fremden sich mit seinen Sehgewohnheiten nicht deckenden Welt. Die Bilder drängen sich in ihrer „Einfachheit“ und der Unauffälligkeit der Situationen dem Betrachter zwar auf, lassen ihn aber in seinen Vorstellungen alleine, weil sie immer wieder auf sich selbst verweisen, verharrend im Kosmos ihrer eigenen Wirklichkeit, nicht als bedeutungsschwerer Kommentar von Lebensrealität, sondern als gleichwertiger Teil von ihr. Diese Eigenständigkeit scheint mit ein wesentlicher Grund für Revellios Reputation zu sein. Denn trotz der vordergründigen Lesbarkeit und den vermeintlichen Plattitüden bleibt das Werk von Paul Revellio immer vielschichtig und rätselhaft zugleich. Es sind die Disproportionen, es ist das raffinierte Spiel, die Perspektive in der Fläche aufzulösen, es ist der Kontrast von volumenvortäuschender Illusion zu an Kinderzeichnungen erinnernde Flächigkeit, es sind die klaren geometrischen Formen, die mal für sich stehen, mal durch heftigen Pinselduktus durchbrochen werden, und es ist besonders die willkürliche Farbgebung, die auf formaler Ebene die sinnliche Wirkung der Bilder hervorrufen. In dieser Malweise manifestiert sich die subtile Taktik Revellios. Er provoziert, aber nicht um der Provokation willen, sondern um das Interesse des Betrachters mit den gegensätzlichen Stilmittel  zu wecken. Diese Annäherung an das durchdachte ästhetische Bildkonzept, das Begreifen der Wahl der künstlerischen Mittel, wird nicht selten durch das Erfassen des Bildinhalts empfindlich gestört. Sind die eigentlich austauschbaren Szenarien nur bloßer Vorwand für die Verwirklichung formaler Ideen? Und wenn es sich tatsächlich so verhalten würde, hätte Revellio dennoch eine eigenständige Leistung gezeigt. Aber er überzeugt auch auf inhaltlicher Ebene. Gerade in der Thematisierung von scheinbar Unscheinbaren des Alltäglichen, sei es etwa die Darstellung von Menschen beim Essen, Trinken oder beim Baden und Skifahren, zeigt sich doch Leben ohnehin viel deutlicher als im Pathos großer Ideen. Und hier kommt auch die künstlerische Botschaft mit ins Spiel. In einer Welt der Normen und Reglementierungen hat sich Paul Revellio mit seiner individuellen Formensprache einen kreativen Freiraum geschaffen, der für den Betrachter über den rein emotional wirkenden Kunstgenuss durchaus praktischen Nutzen bereit hält. Bei der Auseinandersetzung mit Revellios farbenfrohen Gegenwelten kann sich die optimistische Maxime, nach der in der Kunst alles erlaubt ist, auf die Einstellung des Betrachters abfärben. Wir werden angeregt, uns die Freiheit für unseren eigenen ganz persönlichen Bereich zu nehmen. Revellios Werk eröffnet auf ganz ungewohnte Weise neue Horizonte und ermutigt dazu Schwellen zu überwinden und neue Wege zu beschreiten. Wie das in der Praxis geht, macht der Künstler seit einigen Jahren auf der Villinger Fasnet vor. Mit seiner Trommlergruppe „Glotzergilde“  bringt er in das traditionsreiche Fasnachtstreiben die erfrischenden kunstvollen Farbtupfer. Die Kunst wird in diesen Tagen auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft: bei der Herstellung der riesigen Masken aus Pappmache hat sich Revellio zwar von den schillernden Köpfen der Schweizer Guggenmusik inspirieren lassen, aber mit ein wenig Fantasie erkennt man darin auch die vollplastischen Versionen der flächigen Glotzer, die somit am wirklichen Leben fernab dem zuweilen elitären Kunstbetrieb teilnehmen.

 

 

Einblick in eine professionelle Lithografiewerkstatt:

 

Kreatives Chaos, der spontan-kalkulierte Umgang mit Farben, der ungestüme Pinselduktus: das ist nur eine Facette im Schaffen des Künstlers Paul Revellio. Wenn er seinen Malerkittel mit der Druckerschürze oder wenn er seine Arbeitsstätte von Sachsenheim nach Villingen verlegt, dann ist bei aller künstlerischen Freiheit äußerste Disziplin angesagt. Den Motiven, den banalen Alltagszenen, den Glotzern, die auf die Welt blicken, wie der Künstler sie sieht, bleibt Revellio auch im Villinger Atelier treu. Nur die Bildentstehung ist hier viel geplanter und technischer, der Druckvorgang verzeiht keine Fehler. Wer einmal die Gelegenheit hatte, den Künstler in seiner Lithografiewerkstatt bei der Arbeit zu begleiten, kommt zu der Erkenntnis: Paul Revellio ist nicht nur ein exzellenter Maler, er beherrscht auch als einer der wenigen Künstler die anspruchsvolle Technik der Lithografie. Denn in der Regel liefern seine Künstlerkollegen lediglich die Vorlagen oder machen die Vorzeichnungen, der eigentliche Arbeitsprozess wird von einem versierten Lithografen bewältigt. Die Verbindung von künstlerischer Spontanität und der unmittelbaren drucktechnischen Umsetzung haben einen eindeutigen Vorteil gegenüber der arbeitsteiligen Methode: Nur der Künstler selbst hat eine genaue Vorstellung vom Resultat, während dem ganzen technischen Arbeitsprozess kann er Einfluss darauf nehmen. Didaktisch perfekt – die kurze Orientierung auf Lehramt hat sich gelohnt – erläutert Revellio dem Besucher die Entstehung einer Lithografie von der Bildidee bis hin zum fertigen Abzug. Die Darstellung wird mit fetthaltigem Stift auf die 50 Kilogramm schweren Solnhofer Kalksteinplatten seitenverkehrt aufgebracht. Die Platte wird anschließend mit Gummiarabicum und Salpetersäure behandelt, um die Poren des Steines zu verschließen. Während des eigentlichen Druckvorgangs wird der Stein stets nass gehalten, die Druckfarbe bleibt nur an der fetthaltigen Bezeichnung haften. Das Druckpapier wird auf den eingefärbten Stein gelegt, mit einer Zulage abgedeckt und – nun beginnt die schweißtreibende Arbeit an der alten Handpresse – auf dem Wagen mittels einer Handkurbel unter dem Reiber hindurchgefahren. Die Spannung wird gelöst, der Wagen zurückgefahren und das Blatt vorsichtig vom Stein abgehoben. Der Künstler scheint mit dem Ergebnis zufrieden, der Besucher ist es auch. Gibt ihm doch die Lehrstunde die Erkenntnis, dass ernsthafte Kunst, so banal sie auf den ersten Blick erscheint, auch immer etwas mit Handwerk, Talent und Können zu tun hat. 

Stefan Simon