Nomen est omen: Walter Stöhrer, der im Jahr 2000 verstorbene Berliner Kunstprofessor und Verfechter der Nachkriegs-Figuration, ist in die Kunstgeschichte eingegangen. Ob dies seinem Neffen Andreas Stöhrer ebenso gelingen wird, wird die Zukunft zeigen. Der 1962 in Rottweil geborene und dort aufgewachsene Stöhrer studierte nach einem zweijährigen Studienaufenthalt bei seinem Onkel an der Münchner Kunstakademie bei Prof. Helmut Sturm. An dem suggestiven Sog der leuchtenden Malerei Stöhrers kommt man nicht vorbei: Kräftige, provozierende, herausfordernde, Farbkombinationen in heftig schneller Manier auf die Leinwand gesetzt, eruptive Farbklecksexplosionen, dicke wilde Balken Und doch ist das verschwenderische Kolorit, das Fest der Farbe, nur der erste Blickfang. Die Bilder haben auch auf dem zweiten, dritten Blick Bestand. Vielmehr, sie lassen den Betrachter in und nach immer neuen (Ge-)Schichten forschen. Der ungestümen Farbmaler gibt sich urplötzlich als ein subtiler Geschichtenerzähler zu erkennen. „Was das Kopfkino in Gang setzt, sind die Figuren in diesen Bildern“, formulierte es Ingrid Röschlau, frühere Geschäftsführerin der Stiftung Erich Hauser in einer Laudatio. „Manchmal nur Krakelmännchen, manchmal an lustlos ausgefüllte Malbüchermotive von Kindern erinnernd, berühren diese Figuren uns allen vertraute Gestimmtheiten, Befindlichkeiten“. Die Figuren und Bildgründe in der gestisch-wilden wie gleichermaßen farbkräftigen Malerei gehen subtile Balance-Akte ein: Zwischen farbiger Flächigkeit und zeichnerischer Auslotung, zwischen reiner Malerei und figürlicher Abbildung, zwischen Körper und Geste, zwischen konkreter Körperlichkeit und dem Verschwinden des Köpers, zwischen fassbarer Materialität und Transzendenz. Dadurch werden die Bilder auch immer verschiedenen Lesarten ausgesetzt. Die malerischen Szenarien funktionieren somit in narrativer Hinsicht wie auch in ihrer abstrakten, malerischen Qualität. Zugleich lösen sich Stöhrers Bilder von einem eindeutigen psychologischen Kontext: nicht nur der realistische Zugriff, sondern auch die psychologische Chiffrierung unterstehen einer massiven Abstraktion. Die Arbeit „Hals über Kopf“ könnte beispielsweise beliebig gedreht werden. Es entsteht stets eine neue Sicht und Anordnung der Dinge. Vorne, hinten, oben und unten: in den Gemälden Stöhrers geht es um Beziehungen, Verhältnisse, Gesetzmäßigkeiten, Zuständlichkeiten und Situationen, die auch immer vom Betrachter neu bewertet werden. Der Künstler gibt vor, das fertige Bild entsteht im Kopf des Betrachters. Die überlangen, gekrümmten Figuren, die Kopffüssler tummeln sich auf der leuchtend bunten „Spielwiese“, die Projektionsfläche für die Befindlichkeiten des Künstlers wie gleichermaßen assoziatives Erlebnisfeld für den Beschauer wird. Deformation des Individuums ist in den Arbeiten nie Ausdruck seiner selbst, vielmehr entsteht diese Eigenschaft aus dem Weglassen des Unwesentlichen. Wesentlich ist darum die Befreiung der Figur, die damit in ihrem Zusammenspiel mit Raum, Zeit und Farbe zu einer autonomen Bildhaftigkeit beiträgt.
Stefan Simon, 2006
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